MV - Ein Land zum Leben?
MV - Ein Land zum Leben?
Mecklenburg-Vorpommern ist ein Bundesland der besonderen Kontraste: atemberaubende Landschaften und niedrige Löhne, Sehnsuchtsort und Abwanderung, Lebenskünstler:innen und AfD-Wähler:innen, Traditionen und Umbrüche, viele neue Bushaltestellen und wenige Busse.
Mecklenburg-Vorpommern hat mit 69 Einwohner:innen pro Quadratkilometer die geringste Bevölkerungsdichte und gleichzeitig seit der Kreisgebietsreform 2011 die größten Landkreise in Deutschland. Dieser ländliche Raum ist in vielfältiger Weise eine wichtige Kontextbedingung für die Alltäglichkeit rassistischer Diskurse und Praktiken: Er bringt enge Gemeinschaften hervor, in denen Grenzziehungen und Ausschlüsse einfacher vorgenommen werden können und ist oftmals gekennzeichnet durch eine lückenhafte öffentliche Infrastruktur. Die engen sozialen Zusammenhänge, die gegenseitigen Verpflichtungen und die Grenzziehungen wirken wie ein Brennglas auf die Dynamiken von gesellschaftlichen „Othering“ Prozessen.
Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl leben hier die wenigsten Menschen mit Migrationsgeschichte und ebenfalls die wenigsten geflüchteten Menschen. Dies wird oft als Grund dafür angeführt, dass sich Menschen im Bundesland schwer damit täten Vorurteile abzubauen und Menschen, die zuziehen, zu akzeptieren.
Blickt man auf die Geschichte der Gebiete des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns, greift das als Erklärung zu kurz. Auch Mecklenburg-Vorpommern ist eine Region, die geprägt ist und wird von vielfältigen Migrationsprozessen:
Also sozial kann ich wirklich sagen, was ich wieder sehr doll merke, diese starke Distanziertheit der Menschen und auch das starke erst mal grundlegend Skeptische. Skeptisch und eher, wie soll ich sagen, ja, alles, was irgendwie neu ist und es muss noch nicht einmal mit meiner jetzt irgendwie Hautfarbe zu tun haben, sondern einfach nur, dass wir neu in diese Straße hier gezogen sind, das erzeugt erst mal von tendenziell Ablehnung, erst mal so ein bisschen Gegenwehr. Und das spürt man einfach
Migration im nordöstlichen Grenzraum
Migration im nordöstlichen Grenzraum // In manchen Dörfern des Landkreises Vorpommern-Greifswald bilden polnische Zuwander:innen die Mehrheit der Dorfgemeinschaft, vor allem in der Altersgruppe bis 50 Jahren. Gründe hierfür sind in den politischen Entwicklungen und den strukturellen Gegebenheiten der Region zu finden.
Nach der politischen Wende 1989 war auch diese Region von der Abwicklung der DDR und dem damit einhergehenden wirtschaftlichen und öffentlichen Strukturabbau stark betroffen. Die hohe Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven führten zu einer großen Abwanderung von vor allem jungen, gut ausgebildeten (insbesondere weiblichen) Menschen. Verlassene Dörfer und leerstehende Häuser in den Kleinstädten prägten das Bild im ländlichen Raum. Auf der anderen Seite der Grenze hingegen nahm die wirtschaftliche Entwicklung der Metropolregion Szczecin kräftig an Fahrt auf und erhöht seitdem zunehmend den Druck im Immobilien- und Wohnungssektor.
Mit dem Beitritt Polens in die EU 2004 und dem Wegfall der Grenzkontrollen durch die Aufnahme in den Schengener Raum 2007 entwickelte sich im deutsch-polnischen Verhältnis eine neue Form der Migration. Preiswerter Wohnraum und die gute Anbindung an den Großraum Szczecin veranlassten vor allem junge, gut ausgebildete Menschen mit Kindern in Vorpommern-Greifswald zu siedeln.
Einige Kommunen und Gemeinden im Landkreis profitieren im hohen Maße von dieser Migrationsdynamik im deutsch-polnischen Grenzraum. Belebt der Zuzug doch die kommunalen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Region.
Die sozialen Integrationsprozesse schreiten voran, werden jedoch als zumeist asymmetrisch beschrieben, da sie einseitig von den polnischen Zuwander:innen getragen werden. Die sprachliche Barriere erschwert die persönliche Begegnung und verhindert den kulturellen Austausch. Dieser ist jedoch notwendig, um historische, kollektiv verankerte Stereotype aufzubrechen. Insbesondere die Kinder polnischer Eltern müssen sich in ihrem Alltag mit polnischfeindlichen Zuschreibungen, Abwertung und Ausgrenzung auseinandersetzen.
Fluchtbewegungen im Jahr 2015/2016
Fluchtbewegungen seit 2015 // Im Jahr 2015 gab es eine große Fluchtbewegung nach Europa. Die Menschen kamen vor allem aus Syrien (wo seit 2011 ein Bürgerkrieg herrscht) aber auch aus dem Kosovo, Serbien, Mazedonien, Afghanistan und dem Irak. In Mecklenburg-Vorpommern gab es 2015 insgesamt 23.080 registrierte Schutzsuchende, davon waren 13.520 Syrer:innen. Inzwischen (2022) gibt es zu den Menschen, die in den Jahren 2015/2016 nach Mecklenburg-Vorpommern gekommen sind, aber kaum mehr empirisch belegte Informationen, die über Status und Herkunft hinaus gehen.
So wurden wenige Daten darüber erhoben, wer von den Geflüchteten in Mecklenburg-Vorpommern geblieben ist und wie diese Menschen hier leben. Inwieweit eine „Integration“ der Angekommenen gelungen ist, woran dies gemessen werden kann und wie diese ausgestaltet werden soll, lässt sich schwer beantworten.
Russlanddeutsche
Russlanddeutsche // Als Spätaussiedler:innen werden die Menschen bezeichnet, die im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens nach Deutschland übergesiedelt worden sind. Es sind Menschen mit deutscher Abstammung, die seit Generationen in Osteuropa und teilweise in Asien gelebt haben und insbesondere nach 1990 nach Deutschland immigrierten. Zu den Herkunftsländern zählen beispielsweise: Polen, Rumänien, die ehemalige Tschechoslowakei, das ehemalige Jugoslawien und Gebiete der ehemaligen Sowjetunion. Die sogenannten „Russlanddeutschen“ sind die größte Gruppe unter den Spätaussiedler:innen. Sie kommen zumeist aus den postsowjetischen Staaten, vor allem aus Russland und Kasachstan.
Die Anzahl der zurzeit in Mecklenburg- Vorpommern lebenden „Russlanddeutschen“ lässt sich aus statistisch kaum ermitteln. Sie besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft und sind dadurch in zentralen Statistiken, die über spezifische Integrationsbedarfe Auskunft geben könnten, kaum sichtbar.
Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam in der DDR
Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam // Ab Mitte der 1960er Jahre schloss die DDR mit verschiedenen Staaten sogenannte „Vertragsarbeiterabkommen“. Besonders hervorzuheben ist im hiesigen Zusammenhang das entsprechende Abkommen zwischen der SR Vietnam und der DDR aus dem Jahr 1980. Darin wurde, soweit vereinbart das Vietnames:innen für vier bis fünf Jahre in die DDR kommen sollten, um dort Arbeitsplätze in Betrieben einzunehmen. Für die DDR ging es darum, Arbeitskräfte anzuwerben. Für Vietnam lag der Fokus darauf, Schulden abzubauen und Fachkräfte ausbilden zu lassen. So sollte Vietnam bis 1986 regelmäßig geeignete Vietnames:innen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren schicken. Diese bekamen als „Gegenleistung“ mitunter eine Ausbildung als Fachkräfte und weitere Qualifizierungen. 12% ihres Bruttogehalts wurde direkt an den vietnamesischen Staat gezahlt. An diesen flossen so insgesamt vermutlich ungefähr 200 Millionen DDR-Mark.
Das ursprünglich bis 1986 befristete Abkommen wurde nach einigen Verhandlungen bis 1990 verlängert. In der Folge hielten sich im Jahr 1989 ungefähr 60 000 Vietnames:innen in der DDR auf und stellten damit die größte Gruppe der Vertragsarbeiter:innen. Sie waren wichtige Arbeitskräfte, die zum Beispiel in der Hansestadt Rostock im Textilbetrieb „Shanty“, bei der deutschen Reichsbahn oder an der Werft arbeiteten.
Das Leben der Vietnames:innen war von strengen Restriktionen geprägt: So mussten sie für ihre Wohnfläche in den Wohnheimen, die oftmals nur 5-6 Quadratmeter betrug, 30 DDR-Mark Miete bezahlen. Sie wurden durch die Parteisekretäre in der Gruppe und durch die Staatssicherheit in den Wohnheimen bespitzelt und schwangere Vietnamesinnen hatten nur die Wahl zwischen einer Abtreibung oder der Heimreise.
Nach dem Ende der DDR kämpften die Vietnames:innen, die in der neuen Bundesrepublik Deutschland bleiben wollten, bis 1997 um eine Anerkennung iherer Aufenthaltsjahre. Viele nutzten die Möglichkeit der Selbstständigkeit, um in Deutschland bleiben zu dürfen. Unzählige Restaurants, Textilläden und Blumenläden bestimmen noch heute die Stadtbilder der ostdeutschen Bundesländer und erinnern damit an die Geschichte der Vertragsarbeiter:innen.
Verfolgte Sinti:zze und Rom:nja
Verfolgte Sinti:zze und Rom:nja // Sinti:zze und Rom:nja sind seit Jahrhunderten Bewohner:innen Mecklenburg-Vorpommerns. Sie gehören einer Minderheit an, die europaweit seit Jahrhunderten gegen Vorurteile zu kämpfen hat und Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt ist. Der Höhepunkt der Diskriminierung von Sinti:zze und Rom:nja wurde während der NS-Zeit erreicht, als diese, wie die jüdische Bevölkerung, Opfer von "Eugenik" und "Rassenhygiene" und natürlich des nationalsozialistischen Völkermords (Scriba, 2014).
Die Außenlager der Konzentrationslager in Mecklenburg-Vorpommern gehören zu den Orten der Ausbeutung, Repressalien und Gewalt gegenüber den Gefangenen in der NS-Zeit. Für das KZ Ravensbrück konnten 43 Außenlager nachgewiesen werden, von denen sich 14 auf dem heutigen Gebiet Mecklenburg-Vorpommerns befanden. Weitere vier Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme befanden sich ebenfalls in diesem Gebiet (Info Nordost, 2016). Dazu zählen unter anderem das KZ-Außenlager Wöbbelin (Landeszentrale für politische Bildung, 2020), Malchow, Barth, Neustadt-Glewe, Burg Stargard oder Boizenburg (Zeitlupe, o.J.). Statistiken oder Zählungen zu heute in Mecklenburg-Vorpommern lebenden Sinti:zze und Rom:nja gibt es nicht.
Migration in Mecklenburg-Vorpommern nach 1945
Migration nach 1945 // Die größte Zuwanderungsbewegung seiner bisherigen Geschichte erfuhr Mecklenburg-Vorpommern in Folge des Endes des zweiten Weltkriegs im Jahr 1945. Etwa 910.000 Personen - Geflüchtete, Umsiedler:innen und Kriegsgefangene - migrierten auf das Gebiet des heutigen Bundeslandes. Sie wurden in ganz Mecklenburg-Vorpommern verteilt, wobei der Anteil in den nordwestlichen und mittleren Kreisen Mecklenburgs, dazu gehören Wismar, Schönberg, Güstrow und Schwerin, besonders hoch war. Ein wichtiger gesellschaftlicher Einflussfaktor zu der Zeit war die Bodenreform, bei der 2,2 Millionen Hektar Land an Umsiedler:innen und Geflüchtete und ihre Familienangehörigen vergeben wurden. Zahlreiche Familiengeschichten in Mecklenburg-Vorpommern sind durch diese Geschichte geprägt.
Schluss
Wenn es um migrantische Erfahrungen in Mecklenburg-Vorpommern geht, sind vielen die Bilder von Rostock-Lichtenhagen vor Augen. Die hier dokumentierte Studie zeigt eindrücklich auf, dass Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen für Betroffene auch heute vielgestaltig und alltäglich sind. Es gilt zudem festzuhalten: Mecklenburg-Vorpommern ist ein auch in jüngerer Geschichte von Zuwanderung geprägtes Bundesland. Knapp eine Millionen Deutsche flohen nach Ende des Zweiten Weltkrieges in die Region. Tausende Vertragsarbeiter:innen leben und arbeiten seit DDR-Zeiten hier. 2015 und 2016 nahm das Bundesland etwa 23.000 zur Flucht gezwungene Menschen auf. Vor diesem Hintergrund liegt nahe, dass es unzählige Geschichten von Begegnung gegenseitiger Beeinflussung und Integration geben muss. Heute stehen viele Einwohner:innen und eine breit aufgestellte organisierte Zivilgesellschaft auch für Begegnung, Unterstützung, Austausch. Die Akzeptanz der migrationsgesellschaftlichen Realität heißt: es geht um die gemeinsame Ausgestaltung von Zukunft aller, es geht um das gemeinsame Zusammenleben im Sinne von Vielfalt in einer pluralistischen Demokratie.
Es braucht viel, um die Leute hier zu knacken, um sie anzusprechen und irgendwie eine Freundlichkeit, was nicht nur ein "Guten Tag" ist, sondern vielleicht auch mal ins weitere Gespräch darüber hinaus geht. Trotzdem war es aber schön zu sehen, dass ich merke, aber es geht. Man den ersten Schritt alleine machen, man muss sich viel mehr anstrengen.
Quellen
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Himmler, B. (Hrsg.) (2016): Die Heimat eine Hölle. Über den Krieg in Syrien, die Flucht und das Ankommen in Mecklenburg-Vorpommern. Friedrich-Ebert-Stiftung e.V. Schwerin. https://library.fes.de/pdf-files/bueros/schwerin/13173.pdf, [30.05.2022].
Himpel, M. (2014): Vietnamesische VertragsarbeiterInnen nach der Wende. Der Weg in die Selbstständigkeit als einzige Rettung. In: Südostasien. 2014. Nr. 4. S. 8-9.
Gatzke, Nils (2012): Das Polenbild in Deutschland – Entstehung und Gegenwart. In: Regionale Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Mecklenburg-Vorpommern e. V. (Hrsg.): Probleme mit Polen? Polenbezogene Ressentiments in Vorpommern. Waren (Müritz) 2012, S. 12-19. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-338529 [25.05.2022].
Łada, A. /Segeś Frelak, J. (2012): Die neue polnische Migration nach Deutschland aus lokaler Perspektive. In: (Hrsg.): Polen Analysen Nr. 111, 2012, S. 2-13. https://laender-analysen.de/polen-analysen/111/die-neue-polnische-migration-nach-deutschland-aus-lokaler-perspektive/ [28.04.2022].
Rutkowska, B. (2019): Zamieszkujac „Pogranicze“. Migracja Przygraniczna z Polski do Niemiec w doświadczeniach Dzieci i rodzicoẃ. Warszawa. https://rcin.org.pl/Content/113629/WA308_142032_P325_Zamieszkujac-pograni_I.pdf [28.04.2022].
Scriba, A. (2014): Ausgrenzung und Verfolgung von Sinti und Roma. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung-und-verfolgung/ausgrenzung-und-verfolgung-von-sinti-und-roma.html, [08.06.2022].
Schmohl, D. (2016): Rom_nja und Sint_ezze in der SBZ und DDR. Ausgrenzung, (Nicht-)Entschädigung und Wahrnehmung. In: Krahl, K.; Meichsner, A. (Hrsg.): Viele Kämpfe und vielleicht einige Siege. Dresden: Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, S. 93-98.
Weiß, W. (2004): Regional-Demographie Mecklenburg-Vorpommerns von 1945 bis 1990. In: Werz, N.; Nuthmann, R. (Hrsg.): Abwanderung und Migration in Mecklenburg und Vorpommern. Wiesbaden: Springer VS, S.159-182.
Zeitlupe (o.J.): KZ-Außenlager Neubrandenburg (Waldbau). Verfügbar unter https://zeitlupe-nb.de/de/ort/kz-aussenlager-neubrandenburg-waldbau [31.05.2022].